Oh weh, Selbstdarstellung

Der Umzug meiner Erziehungsberechtigten auf einen Aussiedlerhof lehrte mich schon als Kind die Kunst des Alleinseins. Aus der warmen Geborgenheit einer großen Sippe gerissen und in die Isolation eines weit entfernten, einsamen Gehöfts entführt zu werden, kann man ein traumatisches Erlebnis nennen und mich sozial behindert.
Als hochbegabtes Kind in einer bildungsfernen Kleinfamilie mit herrschsüchtiger Mutter und einem prügelnden Vater aufzuwachsen ist eine gute Ausgangsbasis, um dauerhafte Verhaltensstörungen zu entwickeln. Doch meine Kindheit hatte auch schöne Momente. Allein zwischen Jungbullen auf der Wiese zu sitzen und gedankenlos vor mich hin zu träumen, gehört zu meinen schönsten Erinnerungen. Soziale Interaktion war dagegen immer von dem Schatten des Versagens beschmutzt.
Ich habe in vielerlei Hinsicht versagt. Es gelang mir weder Karriere zu machen, noch eine Familie zu gründen. Es war immer wieder das Gleiche: Anfangs Hurra und nach ein paar Wochen wurde das Hamsterrad unerträglich. Ich begann zu saufen, nicht ein oder zwei Bier zum Feierabend, sondern Vollrausch. Weg aus diesem Alptraum war das Ziel, doch der Alptraum kam zurück. Wie nicht anders zu erwarten war, endete dieser Weg in der Gosse.
Obdachlos zu sein war nicht schlimm. Im Gegenteil. Für mich war es Freiheit. Einfach nur mit einem Rucksack durchs Land zu ziehen, mich nicht um Miete etc. kümmern zu müssen, gehen wohin es mich gerade zieht. Man muss es erlebt haben, um es zu verstehen.
Aber damals wollte ich nicht frei und allein sein und flüchtete immer wieder in mehr oder weniger lang dauernde Beziehungen, die dann oft wieder in der Gosse endeten. Immer wieder der Versuch zu funktionieren und immer wieder scheitern. Verzweiflung, Depressionen, Likör. Der Name Phoenix beschreibt diese Jahre gut.
Es hat mehrere Jahrzehnte gedauert zu erkennen, warum ich nicht so funktioniere wie scheinbar die gesamte Menschheit. Ich mag Menschen, liebe es mit anderen zu spielen. Aber ich fühle mich anderen Menschen nicht verbunden. Der Satz: "Blut ist dicker als Wasser." hat für mich keine Bedeutung. Ich kann Zuneigung empfinden, doch keine Verbundenheit.
So, wie Eltern, Geschwister und die meisten Menschen mich nicht verstehen, verstehe ich die meisten Menschen nicht. Dass sie sich in der Gruppe sicher und geborgen fühlen, kann ich noch nachvollziehen. Aber Patriotismus, Fähnchen schwingen und Hymnen singen gehört für mich zu den absurden Verhaltensweisen, die ich nur mit intensiver Dressur erklären kann. Es gibt ja nicht die eine deutsche Leitkultur, von der Nationalisten so oft und gerne schwafeln. Es gibt abseits der Bürokratie noch nicht einmal eine gemeinsame Sprache. Warum Menschen dieser Nationalidee gehorchen oder an erfundene Götter glauben, wird für mich wohl immer ein Rätsel bleiben.

Anfang des Jahrtausends wurde dann von einer Gutachterin der Rentenversicherung eine Art autistischer Störung bei mir diagnostiziert und ich aus dem Heer der Lohnsklaven in die Arbeitsunfähigkeit aussortiert. Für mich war diese Diagnose eine Erlösung. Nicht mehr funktionieren zu müssen bedeutete auch nicht mehr trinken zu müssen. Ich bin seit dieser Befreiung trocken.
Das macht soziale Interaktion für mich doppelt schwierig, da Alkohol und gemeinsamer Rausch mir wenigstens die Illusion schenkte dazu zu gehören. Nüchtern fühle ich mich unter Menschen wie ein Alien. Allein zu sein wie das Kind auf der Bullenweide ist nun mein Alltag.

Man mag mich einen Eigenbrötler nennen und ich backe tatsächlich mein eigenes Brot. Doch für mich hat dieses Wort keine negative Bedeutung. Man kann sein eigenes Brot backen und trotzdem mit anderen kooperieren, was ich ja auch tue. Ich lebe ja nicht fern der Menschen auf einem Berg oder im Wald. Ich lebe mitten unter euch, doch ich gehöre nicht dazu. Ich gehöre zu keiner Familie, keinem Clan, keiner Partei, keiner Religion.
Ich gehöre nur mir selbst und das macht mich freier, als ihr es euch vorstellen könnt.


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